Eine der Säulen, auf denen die Macht des russischen Präsidenten ruht, ist das vom Staat gelenkte Fernsehen. Dort wird auf Anweisung aus dem Kreml die Wahrheit verbogen. Ein Einblick in den Propagandabetrieb Von Friedrich Schmidt (FAZ).
Auf den wesentlichen Kanälen versuchen Amerikaner, Revolutionen anzuzetteln, entwickeln Waffen in Geheimlaboren, um Russland zu vernichten. Zum Glück wacht ein erfahrener Mann mit Nuklearwaffen, der Menschen und besonders Kinder liebt, über Land und Leute, bestraft die Ungerechten, hält ausländische Verderbtheit fern. So funktioniert, nur leicht vereinfacht, Fernsehen in Russland. Sieben von zehn Russen beziehen ihre Informationen über das fast vollständig vom Kreml kontrollierte Medium. In diesem Paralleluniversum eilen Land und Präsident von Erfolg zu Erfolg, an Missständen sind Verräter schuld. Einblicke in diese Stütze von Wladimir Putins Macht sind rar. Aber es gibt sie, von der Spitze der Mediensäule und von ganz unten. Sie erhärten das Bild eines Systems, in dem Kontrolle und Bereicherung viel, Wahrhaftigkeit, Konsequenz und Russland-Treue hingegen wenig zählen.
Wichtige Fernsehleute, die bei der Arbeit russische Zustände schönen oder Bedrohungen aus dem Westen ausmalen, haben dort selbst Lebensmittelpunkte. Durch den Antikorruptionskämpfer Aleksej Nawalnyj wurde im November bekannt, dass der Moderator Sergej Briljow, zudem stellvertretender Generaldirektor des Staatssenders Rossija und Stichwortgeber Putins bei vielen Auftritten, seit 2001 neben der russischen die britische Staatsangehörigkeit hat und seit 2016 über seine Frau eine schicke Wohnung in London. Berichtet wurde auch, dass Briljow dorthin häufig auf Staatssenderkosten fliegt.
Vor wenigen Jahren, vor der Verschärfung des Gegensatzes mit dem Westen, hätte das in Russland kaum jemanden gestört. Aber nun werden Russen mit Westverbindungen als „Verräter“ und „Agenten“ diffamiert, teils vor Gericht gestellt und verurteilt, auch wenn sie nur Diabeteskranken geholfen haben.
Dem Kaliningrader Journalisten Igor Rudnikow wird gerade zur Last gelegt, über einen amerikanischen Aufenthaltstitel zu verfügen (F.A.Z. vom 6. Februar). Es ist seit 2014 in Russland eine Straftat, eine ausländische Staatsangehörigkeit oder einen ausländischen Wohnsitz nicht anzuzeigen.
Daher erregte die Enthüllung zu Briljow Aufsehen. Der Moderator behauptete, er habe nie etwas verheimlicht. Wenigstens die Mitgliedschaft des Briten in einem Beirat des russischen Verteidigungsministeriums wäre ausgeschlossen. Es geht um Loyalität: Das Nato-Mitglied Großbritannien liegt mit Russland etwa im Vergiftungsfall Skripal über Kreuz. Aber Briljow blieb in dem Beirat und auch sonst auf Posten. Der Präsidentensprecher nahm ihn in Schutz: Briljow beweise, dass man die britische Staatsangehörigkeit haben und zugleich „echter Patriot Russlands“ sein könne.
Einem weiteren Staatsfernsehmann hat Nawalnyj zwei Villen am norditalienischen Lago di Como nachgewiesen. Die erste in Pianello del Lario im Wert von rund neun Millionen Euro, die zweite in Menaggio, erworben 2013 für mehr als eine Million Euro. Zurzeit wird dort gebaut. Unterlagen weisen den Bauherrn, Wladimir Solowjow, als Bewohner von Pianello del Lario und „Künstler“ aus. Tatsächlich beeindruckt Solowjows Biegsamkeit. Noch im November 2013 sagte der Russe, der stets im dunklen Rundhalssakko oder -hemd auftritt, zum Wunsch nach einer „Rückkehr der Krim“ zu Russland: „Gott bewahre“, denn das bedeute Krieg mit der Ukraine. Die Annexion der Halbinsel vier Monate später rühmte er als „historische Gerechtigkeit“. Im Staatsfernsehen forderte er, angeblich faschistische Ukrainer zu erhängen und zu erschießen. In Lettland begründete eine Behörde mit solchen Äußerungen Solowjows im Januar ein dreimonatiges Ausstrahlungsverbot für einen Sender mit russischem Staatsfernsehprogramm. Solowjow verflucht Demonstranten („zwei Prozent Scheiße“), erklärt gekränkt Russlands Bruch mit dem Westen („Wir hatten eine sehr romantische Vorstellung vom Westen und seiner Moral. Leider hat die Praxis das nicht bestätigt“) und huldigt salbungsvoll seinem Präsidenten („Gesandter der Leute an der Macht“). Letztere Gabe des „talentierten Journalisten“ (so Mercedes-Benz Russland in einem Instagram-Dankes-Post, als Solowjow vor einem Jahr eine Luxuslimousine erwarb) gab wohl den Ausschlag dafür, dass ihm im September eine weitere Wochensendung anvertraut wurde: „Moskau. Kreml. Putin“ erzählt, wie der Präsident trotz Stress und Feinden obenauf und menschlich bleibt. Von Journalisten nach den Villen im Nato-Land Italien befragt, sagte Solowjow, er habe kein Gesetz verletzt und werde, wenn er Lust bekomme, weiteren Besitz erwerben.
Solche Enthüllungen bleiben einem interessierten (Online-)Publikum vorbehalten, ihren Weg ins kontrollierte Fernsehen finden sie nicht. Auch nicht, wer die Aufsicht über die staatlichen und die privaten, linientreuen Sender hat. Das ist laut russischen Berichten der 58 Jahre alte Erste Stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Alexej Gromow. Ins Zentrum der Macht kam er vor mehr als 22 Jahren unter Präsident Boris Jelzin. Von 2000 bis 2008 war Gromow Putins Sprecher und in dieser Zeit laut Recherche des Investigativportals „Projekt“ daran beteiligt, unbotmäßige Privatsender unter Kontrolle zu bringen.
Demnach entscheidet Gromow, worüber zu berichten ist und worüber nicht. Das ist oft eine Abwägung zwischen Verschweigen und Verbiegen. So fiel am 26. März 2017, als in Dutzenden Städten Zehntausende gegen Korruption demonstrierten, im kontrollierten Fernsehen kein Wort über die Massenproteste, laut „Projekt“ auf Anweisung Gromows. Erst später strahlte man, um die Proteste in das aus Kreml-Sicht rechte Licht zu rücken, einen Clip zu einem Fall aus, in dem Demonstranten einen Polizisten verletzten. Bilder von Gewalt gegen Demonstranten wurden nicht gezeigt.
Es gibt laut „Projekt“ wöchentliche Besprechungen der Senderchefs, ihrer Stellvertreter oder der Chefredakteure in Gromows Büro, zu denen die Pressestäbe von Präsident, Ministerien und Parlament kommen, mit Anweisungen. Die zentrale Lenkung erklärt, warum der Machtapparat bei wichtigen Themen komplementäre oder identische Botschaften aussendet.
Gromow kontrolliert laut „Projekt“ auch den als „Kreml-Pool“ bekannten Pressetross, der Putin begleitet. Die Reisen organisiere ein Privatunternehmen, das anteilig einem Kommilitonen Gromows aus Moskauer Studientagen gehöre, zu extrem überhöhten Preisen. Gromow bereitet Putin demnach einen „Digest“ genannten täglichen Nachrichtenüberblick vor und ist einer der wenigen, der fast immer zum Präsidenten gelangen kann. Das gibt dem Medienlenker Macht. „Projekt“ ordnete Gromow unter anderem einen alle Beamteneinkünfte sprengenden „Palast“ auf einem Grundstück nahe Putins Hauptresidenz zu. Gromows Familie steht demnach zwei Milliardären nahe, Oleg Deripaska und Roman Abramowitsch, mit einträglichen Vorteilen für den älteren seiner beiden Söhne.
Gromow kommentierte die Recherche nicht. Doch veröffentlichte der Staatssender RT einen Bericht, der mit der Frage, wer für solche „Enthüllungen“ (in Anführungszeichen) zahle, Zweifel an der Arbeit von „Projekt“ zu säen suchte. (Dessen Gründer hat angegeben, „Spender“ seien „russische und ausländische natürliche und juristische Personen“.) Gromow war 2005 an der Gründung des Senders als „Russia Today“ beteiligt, erwirkte damals laut „Projekt“ die Ernennung des Kreml-Pool-Mitglieds Margarita Simonjan zu dessen Leiterin – und vor kurzem die Staatsfinanzierung von Simonjans mit deren Gatten gedrehten Kinofilm „Krim-Brücke. Mit Liebe gemacht“, der ansonsten floppte.
Am unteren Ende der Mediensäule ist weniger Geld da, aber der Druck, auf Linie zu bleiben, immer noch groß. So berichtet es Leonid Kriwenkow, einer der wenigen früheren Mitarbeiter des Staatsfernsehens, die sich mit Klarnamen zitieren lassen. Kriwenkow, sechzig Jahre alt, ist Chemiker und war nur Hobbyfilmer. Ein Bekannter brachte ihn als Kameramann zum Staatsfernsehen, anfangs für eine Morgenshow, seit 2006 beim Staatsnachrichtensender Rossija 24. Kriwenkow berichtet, wie er dort regelmäßig Schmiergeld zahlen musste, für die Anstellung und dafür, dass man ihn nach Entlassung jedes Jahr Anfang Januar wieder anstellte. Um jahrelang vorenthaltenen Urlaub prozessierte er erfolglos: Gerichte und Behörden waren auf Seiten des Staatsfernsehens. Als Disziplinierungsmittel diente die Drohung, nur das Grundgehalt auszuzahlen, nach heutigem Kurs rund neunzig Euro. Mit Zuschlägen kam Kriwenkow auf ein mageres, aber in Moskau übliches Nettogehalt von 560 Euro.
Kriwenkow berichtet, dass es für die Nachrichtensendungen verpflichtende Themen gab, an denen der Chefredakteur nichts ändern konnte. Oft seien Sätze gefallen wie „Sie haben aus dem Kreml angerufen“, wenn ein Thema aus dem Programm ausgeschlossen oder befohlen wurde, es anders zu präsentieren.
Mit teils absurden Ergebnissen. Bei den Unterhauswahlen 2011 verkündeten Moderatoren Ergebnisse der Parteien, die in der Summe 146 Prozent ergaben. Kriwenkow erklärt, der Kreml habe nur die Prozentzahlen der Machtpartei „Einiges Russland“ bestimmt und aufgegeben, den anderen Parteien deren tatsächliche Ergebnisse zuzuweisen. Kriwenkow erinnert vorauseilenden Gehorsam: Einmal habe ein Fachmann im Studio über die Herstellung und den Einsatz von Giftgas durch das syrische Regime gesprochen. Für den Kreml, der den Vasallen schützt, ein Tabu. Der Chefredakteur habe dem Moderator über den technischen Kanal befohlen, dem Gast „das Maul zu stopfen“, worauf der das Gespräch abgebrochen habe. Trotzdem sei ein Rüffel aus dem Kreml gekommen. Beim Abschuss von Flug MH17 über der Ostukraine im Juli 2014, der 298 Menschen tötete, meldete Rossija 24 zunächst, die „Bürgerwehr“ (im Westen als „prorussische Separatisten“ bekannt) habe neuerlich ein ukrainisches Militärflugzeug abgeschossen, zeigte Bilder der Rauchsäule. Als sich abzeichnete, was wirklich für ein Flugzeug getroffen war, ging man dazu über, Kiew zu beschuldigen, in unterschiedlichen Versionen. Kriwenkow berichtet von hektischen Anrufen: „Sie wussten nicht, wie sie das rüberbringen sollten.“
Oft habe er mit den Moderatoren in Pausen zusammengesessen und gesagt: „Vor einer Stunde hast du doch noch etwas ganz anderes erzählt.“ Reaktion: „Was soll man machen, so ist die Arbeit.“ Kriwenkow meint, aus Überzeugung arbeiteten beim Staatsfernsehen höchstens zehn Prozent, neunzig Prozent „verstehen alles“, arbeiteten aber aus wirtschaftlichen Gründen weiter. Auch Kriwenkow selbst hielt die Sorge um den Lebensunterhalt beim Sender, obwohl er die Politik der Führung abgelehnt habe, wie er sagt. Besonders frustriert habe ihn, nach Putins Lebensmittelembargo im August 2014 als Reaktion auf westliche Sanktionen ständig Bilder von Traktoren anzusehen, die Käse und Äpfel zerstörten, „in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung nie normalen Käse probiert hat“ und dazu Moderatorenlob der „klugen Entscheidung“ anzuhören. Anfang 2016 schied er aus dem Sender aus.
„Ich muss mich bei den Zuschauern von Rossija 24 entschuldigen, dass ich daran beteiligt war, sie zu desinformieren“, sagt Kriwenkow. Er sei überzeugt, dass Putin das Land in die Katastrophe führe. Jeder Bürger müsse seinen Teil tun, um das zu verhindern. Deshalb die Interviews mit Klarnamen. Nach einem ersten Gespräch für Radio Free Europe/Radio Liberty im Januar sah er auf Facebook, dass ihm nicht nur viele frühere Kollegen die „Freundschaft“ kündigten, sondern sogar Leute aus seinem Fahrradclub. Er berichtet über Versuche, seine Konten bei Facebook und G-Mail zu knacken. Mit dem Druck habe er gerechnet, sagt Kriwenkow. „Ich bin schon lange zu dem Schluss gekommen, dass das Fernsehen die wichtigste Waffe des in Russland herrschenden Regimes ist.“